von Heike Herrmann-Hofstetter
„Jetzt bin ich ein Schmetterling“ ist mein mir liebster Text.
Ich schrieb ihn 2002 während meines Orientierungs- und
Mobilitätsunterrichtes.
Sechs Jahre hatte ich gebraucht, bis ich mich zu diesem Unterricht
entschieden hatte und damit einhergehend dazu, den weißen Langstock
zu benutzen.
An einem Samstag besuchte ich, nach langer Zeit, endlich wieder meinen
geliebten Wochenmarkt, den Weg traute ich mir nun, ausgestattet mit meinem
weißen Langstock, wieder zu.
Ich kam sehr glücklich nach Hause zurück, alles war wunderbar verlaufen,
ich setzte mich an meinen Computer und schrieb in einem Guss diesen Artikel.
Von Heike Herrmann-Hofstetter
Aus "Blinde-Schönheit"
Was ist passiert? Ich habe nach langem Zaudern geschafft, mich als Behinderte zu outen, habe mich über die wiedergewonnene Souveränität durch meinen Mobilitäts- und Orientierungsunterricht gefreut und gleichzeitig unter der Rolle der geouteten Behinderten gelitten. Ich genoss meinen erweiterten Radius, litt aber viel mehr unter der zunehmenden Blindheit. Doch langsam und vor allem dadurch, dass ich meine Gefühle durch das Schreiben von Artikeln verarbeitete, kam ich in meiner neuen Rolle an. Das vorläufige Ergebnis ist, dass ich wieder viel mehr laufe, ich traue mir mehr und mehr zu und ich bin vor allem wieder ich, wenn ich unterwegs bin.
Ich erkunde neue Wege, ich achte kaum noch drauf, was um mich herum bezüglich der Blindheit passiert, ich bin ganz bei mir und dann passiert auch nicht viel um mich herum bezüglich der Blindheit, weil ich sie ja nicht in den Vordergrund stelle. „Übergangsriten“ und „Entpuppung“, habe ich heute beim Laufen gedacht! Ich habe mich lange an der Definition der (schlecht)Sehenden festgekrallt, das war die „Raupe“! Ich habe mich an dieser Definition so lange festgekrallt, bis ich innerhalb dieser Definition nicht mehr weiterkam! Dann habe ich mich auf den Blindenstock eingelassen und mich zunächst über die wiedergewonnene Souveränität gefreut. Dann kam aber ersteinmal dieses Gefühl der Ohnmacht. Ich konnte nicht mehr die (schlecht)Sehende sein, ich konnte mit dem (schlecht)Sehen nicht mehr agieren. Aus diesem Zustand heraus nahm ich den Blindenstock, freute mich über die erweiterte Mobilität, konnte aber die Rolle der blinden Frau nicht annehmen. Ich sah nur das, was ich jetzt nicht mehr konnte. Fühlte beim Laufen nur meine Blindheit, war total fixiert auf diese Blindheit, stellte sie mir und damit anderen zur Schau und litt darunter. Es begann die bei den Übergangsriten so bezeichnete Übergangs- bzw. Umwandlungsphase. Der eine Zustand wird verlassen, eine Umwandlungsphase beginnt und dann doggt man an einen neuen Zustand an, wird quazi in diesen hineingeboren. Als neue gewandelte Person hineingeboren. Bei der Raupe nennt sich dieser Zustand Verpuppung!
Dieser Zustand, diese Phase war sehr schwer, ich fühlte die Trennung von der Definition der (schlecht)Sehenden und konnte den neuen Zustand der Blinden lediglich mit Defiziten und Ängsten füllen. Was entstand war ein tiefes Loch, eine Leere und sehr große Trauer bis hin zu Resignation. In dieser Phase schrieb ich den Artikel: „RP Trauerarbeit, Doch so schlimm, wie befürchtet?“!
Das Schreiben hat mir sehr viel geholfen, ich konnte meine ganzen Gefühle loswerden, verarbeiten und kam dadurch entschieden weiter!Zunächst stellte ich mir die Frage: „Was kann ich als blinde Frau eigentlich machen?!“ Ich bin immer noch traurig und leide darunter, dass ich vieles, sehr vieles und als behinderte Frau noch viel mehr, nicht machen kann, was nichtbehinderten Menschen möglich ist. Aber ich entdecke jetzt, was ich trotzdem noch machen k a n n ! Es herrscht jetzt nicht mehr das n i c h t können vor in meinem Denken, sondern ich entdecke das K ö n n e n !
Ich habe angedoggt am Zustand der blinden Frau, ich erkenne, entdecke, merke, was doch alles möglich ist und was vor allem jetzt, da ich den Stock benutze noch viel möglicher ist, als in den letzten Jahren des Festhaltens am Zustand des (schlecht)Sehens! Ich habe mir ein Tandem gekauft und fahre tatsächlich auch damit! Ich habe begonnen zu reiten! Ich gehe wieder mehr und immer wieder mehr in die Stadt in Geschäfte und irgendwann traue ich mich auch allein in ein Café! Es stimmt zwar, dass ich dort wesentlich weniger machen kann als Sehende aber es stimmt auch, dass ich denke, dass ich deswegen dort auch nichts zu suchen hätte. Die Zeit der Umwandlung ist vorbei! Ich habe angedoggt, bin neu geboren im Zustand der blinden Frau!